Am 26. April habe ich ein Konto auf Mastodon angelegt. Meine Twitter-Timeline war voll von Empfehlungen für das Netzwerk, und da dachte ich: Versuch's doch mal. Viele dieser Empfehlungen wurden allerdings durch eine Schlagzeile an jenem Tag ausgelöst: Elon Musk wollte Twitter für rund 44 Milliarden Dollar kaufen. Die Sache schien geritzt und war für zahlreiche Nutzer ein Grund, aus dem Netzwerk auszusteigen und nach Alternativen zu suchen. Eine davon heißt Mastodon und kommt aus Deutschland. Aber: Ist die per se besser? Und wird jetzt bei Twitter alles schlechter?

17. Mai 2022

Muskodon

Oh nein, ein Milliardär hat ein Tech-Unternehmen im Silicon Valley gekauft - wie ungewöhnlich. Aus Twitter wurde „Muskodon“. Die Reaktion vieler Nutzer.innen auf der Plattform war recht harsch, und man bekam beinahe das Gefühl, der Antichrist höchstselbst habe nun den Kurznachrichtendienst übernommen. Rette seine Seele, wer kann! Das war das Gefühl, das man beim Lesen der Twitterübernahme-Schlagzeile am 26. April 2022 bekommen konnte. Aus meiner Sicht eine reichlich übertriebene Reaktion. Denn vor der vermeintlich sicheren Übernahme durch Elon Musk hatten sich nur wenige bei ihrer täglichen Nutzung von Twitter Gedanken darüber gemacht, wem der Konzern eigentlich gehört. Dass beispielsweise der Twitter-Mitgründer Jack Dorsey ebenfalls Milliardär ist – sei's drum. Oder dass Twitters damaliger Chief Technology Officer und heutiger CEO Parag Agrawal in einem Interview mit dem Magazin Technology Review 2018 zum Thema Meinungsfreiheit sagte: „Unsere Aufgabe ist es nicht, an den ersten Verfassungszusatz gebunden zu sein, sondern einer gesunden öffentlichen Konversation zu dienen. Und unsere Schritte spiegeln die Dinge wider, die unserer Meinung nach zu einer gesünderen öffentlichen Konversation führen. Wir konzentrieren uns dabei weniger auf die Meinungsfreiheit, sondern auf die Frage, wie sich die Zeiten geändert haben. [...] Die Art und Weise, wie wir die Aufmerksamkeit der Menschen lenken, führt zu einer gesunden öffentlichen Diskussion, die sehr partizipativ ist."

Fokus weniger auf die Meinungsfreiheit, gesunde öffentliche Konversation aus Sicht eines Milliardenunternehmens … da steckt eine Menge Zündstoff drin. Gerade der letzte Satz wirft so manche Frage auf: Wie wird Aufmerksamkeit eigentlich gelenkt? Was kennzeichnet für Twitter eine „gesunde öffentliche Diskussion“? Wann und wie greift die Plattform ein? Die Antworten darauf haben wir zum Teil in den vergangenen Jahren erhalten, und nicht immer lag Twitter mit seiner Entscheidung richtig, wie beispielsweise dieses Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth zeigte.

Virtuelles Hausrecht und Grundgesetz

Als Elon Musk im Zusammenhang mit der Übernahme reichlich vage ankündigte, er wolle nun eine „echte Plattform für Meinungsfreiheit“ schaffen, löste das reichlich Stirnrunzeln aus. Sofort sprangen kollektive Entrüstung und Spekulationen an. Erinnerte sich da noch jemand an Agrawals Statement? Oder an das grundsätzliche Problem, dass Tech-Unternehmen den gesellschaftlichen Diskurs in den digitalen Weiten ohnehin moderieren? Oder daran, dass sie alle Algorithmen haben, die auf ähnliche Weise funktionieren? Schließlich regt nichts so sehr das überall gefragte „Engagement“ an wie eine ordentliche Kontroverse. Je stärker diese ausfällt, desto eifriger hauen die Nutzer.innen in die Tasten. Und machen wir uns damit zusammenhängend eigentlich bewusst, dass es stets in der Verantwortung eines Unternehmens lag und liegt, von seinem digitalen Hausrecht Gebrauch zu machen und Content zu filtern? Daran würde sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch nach Musks vollmundigem Versprechen wenig ändern. Auch nicht daran, dass dieses „virtuelle Hausrecht", ebenso wie die Posts der Nutzer.innen, sich hierzulande in den Grenzen des Grundgesetzes bewegen müssen. Vielmehr scheint hier eine gewisse Attitüde durch, die mich an den Satz „früher war alles besser“ erinnert. Trotz der Tatsache, dass für den vormaligen Twitter-CEO erklärtermaßen die Meinungsfreiheit nicht das höchste Gut auf Twitter war. Nun grassiert die Angst davor, dass mit einem Wechsel an der Spitze eines Milliardenunternehmens plötzlich alles diabolisch schlecht wird. War denn früher bei Twitter wirklich alles besser? Spoiler Alarm:

Früher war nicht alles besser

Der Kurznachrichtendienst startete einmal mit 140 Zeichen pro Tweet. Das war der USP der Marke Twitter in den digitalen Weiten, 20 Zeichen kürzer als eine SMS. Die klare Botschaft: Fass dich kurz! Nach elf Jahren wurden daraus die heute (noch) gültigen 280 Zeichen, plus der Möglichkeit, mehrere Tweets zu einem Thread zu verknüpfen. Eine Entscheidung, die von vielen begrüßt, aber auch von einigen verflucht wurde. In der Kürze läge doch sprichwörtlich die Würze, mahnten sie. Aber war das eine Änderung zum Schlechten?

Vom Hashtag, den ein Twitter-Nutzer 2007 einführte und den der Kurznachrichtendienst erst zwei Jahre darauf für das gesamte Netzwerk umsetzte, waren Dorsey und Co. anfangs wenig angetan. Das sei zu verwirrend für die Nutzer.innen und „zu nerdy“. Hat der Hashtag Twitter unnötig verkompliziert oder vielmehr erst die Interaktion der Nutzer.innen untereinander befördert? Entscheiden Sie selbst. Erst 2011 folgte übrigens die Möglichkeit, überhaupt Bilder zu posten; Medieninhalte ließen sich direkt im Feed ansehen. War das etwa der Untergang der Twitterlands? Hm. Kurzum: Das Twitter, das wir heute kennen, hat sich seit seinen bescheidenen Anfängen – wie die meisten digitalen Plattformen – weiterentwickelt und sich den Bedürfnissen seiner Nutzer.innen angepasst. Natürlich gab es dabei Fehleinschätzungen, Irrungen und Wirrungen. Twitter ist schließlich, trotz aller schön formulierten Bekenntnisse, ein börsennotiertes Unternehmen.

Der Sache mit dem Open-Source-Algorithmus

In der Pressemeldung von Twitter wird Musk wie folgt zitiert: „Außerdem möchte ich Twitter besser machen als je zuvor, indem ich das Produkt mit neuen Funktionen ausstatte, die Algorithmen quelloffen mache, um das Vertrauen zu erhöhen, die Spam-Bots bekämpfe und alle Menschen authentifiziere.“ Der Algorithmus soll also Open Source werden. Das allein muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Eine solche Ansage von Google oder Facebook wäre Wahnsinn, schließlich ist der Algorithmus die Basis für Werbeeinnahmen auf den Plattformen und wird beinahe so gut gehütet wie der Heilige Gral im dritten Teil von Indiana Jones.

Allerdings ist hier nicht näher spezifiziert, welcher Teil des Algorithmus in welcher Form offengelegt wird. Warum auch, es handelt sich zunächst um eine Willensbekundung. Nichtsdestotrotz brächte diese Entscheidung mehr Transparenz in das Netzwerk und seine Abläufe – ist das notwendigerweise schlecht für die Nutzer.innen? Doch statt an diesem Gedanken anzusetzen und ihn konstruktiv zu diskutieren, wird beispielsweise in Wire breit darüber philosophiert, dass das ja ohnehin nichts bringen werde. Ohne, dass schon konkret bekannt wäre, welche Algorithmen Musk denn nun genau veröffentlichen möchte. Wie wäre es, zunächst einmal abzuwarten und dann zu urteilen, ob und wie Ankündigungen wie diese konkret umgesetzt werden? Auch im Hinblick auf die anderen hier genannten Aspekte wie der Kampf gegen Spam-Bots und die Nutzerverifizierung. Lassen Sie uns doch aber einfach über Ergebnisse sprechen, nicht über Absichtserklärungen. Und da wir gerade davon sprechen: Die eigentlich als sicher verkündete Übernahme ist scheinbar doch etwas wackelig. Zumindest liest es sich so, aber bis zum Jahresende ist es ja noch ein Weilchen hin.

Mastodon

Vor diesem Hintergrund machte plötzlich Mastodon die Runde als veritable Alternative. Es sieht aus wie Twitter, es lässt sich fast wie Twitter nutzen, erlaubt Crossposting zwischen den Plattformen – und hat natürlich auch ein Profil auf Twitter mit dem bezeichnenden Namen @joinmastodon. Dort verkündete das dezentral organisierte Netzwerk am 26. April einen Zuwachs von 41.287 Nutzern. Twitter hat aktuell weltweit über 350 Millionen Nutzer.innen, zwölf Millionen davon twittern aus Deutschland. Die unterschiedlichen Mastodon-Instanzen beheimaten aktuell über fünf Millionen Nutzer.innen. Es handelt sich um ein nicht-kommerzielles Open-Source-Projekt, bei dem nicht getwittert, sondern „getrötet“ wird. Ja, wirklich. Bis zu 1.000 Zeichen lässt ein Post zu. Als Twitter-Nutzer findet man sich dort jedenfalls ziemlich schnell zurecht.

Grundsätzlich ist auch alles Wölkchen in dem potenziellen Better-Twitter, aber es gibt natürlich auch dort Probleme. Und die liegen beispielsweise in der dezentralen Organisation sowie den unterschiedlichen Instanzen, genauer gesagt in deren „virtuellem Hausrecht“. Da ist es also wieder. Im Unterschied zur „Birdpage“, wie Mastodon die kommerzielle Konkurrenz gerne nennt, eröffnen hier Einzelpersonen einen Server, Instanz genannt, auf dem dann die Mastodon-Software läuft. Man meldet sich also nicht zentral bei Mastodon an, sondern bei einer dieser Instanzen, für die man sich am Anfang entscheiden muss. Und dort gelten unterschiedliche Regeln, die jeder Betreiber auf Basis eines gewissen Grundgerüsts recht individuell festlegen kann. Wie man sich denken kann, wird das zu Problemen führen. Die Gefahr, dass sich Mastodon, aktuell vor allem noch ein Platz für technikaffine Menschen, sich mit der Erweiterung seines Nutzer.innenkreises politisieren und es zu Skandalen durch neue Instanzen kommen wird, ist beinahe vorprogrammiert.

Und dann?

Damit will ich Mastodon nicht schlechtreden. Ich finde die Plattform ganz im Gegenteil hervorragend und nutze sie  vorrangig für mein Hobby, das sich rund um alte Heimcomputer und Spielkonsolen dreht, sehr gerne. Das ist auch exakt dieselbe Blase, in der ich mich im Twitterverse bewege – und damit bisher praktisch keine Berührungspunkte zu all den negativen Dingen hatte, die andere auf Twitter erleben. Das Besondere bei Mastodon liegt in der dezentralen Struktur und dem hohen Interesse der Betreiber, ihre Server entsprechend ihren Vorstellungen und Vorgaben zu moderieren. Moderation ist im Übrigen etwas, mit dem sich nicht nur Twitter, sondern auch viele andere soziale Netzwerke schwertun. Insofern habe ich große Hoffnung, dass sich Mastodon als eine interessante neue Plattform erweist, die gekommen ist, um zu bleiben.

Es ist schon recht bezeichnend, dass es vor allem Empörung über einen ganz normalen Vorgang in der Wirtschaftswelt ist – in diesem Fall die Übernahme von Twitter durch Elon Musk – die Schlagzeilen macht. Und zwar als Reaktion auf zwar vage, aber doch nicht per se negative Änderungswünsche, und mehr als das wird doch erst einmal nicht verhandelt. Es ist exakt diese Aufgeregtheit und Polarisierung, die Wechselkandidaten nun mit zu Mastodon nehmen. Schöne neue Social-Media-Welt also? Wohl eher nicht. Solange soziale Medien vor allem ein Ort für öffentliche Empörung sind, ist Mastodon ebenso wenig die Lösung wie Twitter.

Die eigentliche Frage in diesem Zusammenhang ist doch vielmehr, wie wir den öffentlichen digitalen Diskurs generell führen wollen. Die Suche nach einer digitalen Plattform für diesen Zweck kann nur dann erfolgreich sein, wenn wir uns insgesamt auf Umgangsformen einigen, die auch zu einem verbesserten Miteinander führen. Wenn wir weiterhin in Schubladen denken und Diskussionen vornehmlich daraus bestehen, sich gegenseitig Vorwürfe aufgrund unterschiedlicher Positionen und Ansichten zu machen, alles auszublenden, womit man sich nicht beschäftigen möchte, und weiterhin virtuelle Blasen zu errichten, innerhalb derer ein hundertprozentiger Konsens in allen Fragen angesagt ist, werden wir wohl kaum eine digitale Sphäre schaffen können, die das für uns leistet. Die Lösung dieser Herausforderung ist vielmehr eine philosophische, gesamtgesellschaftliche, die sich auch nicht über Nacht erwirken lässt. Wir müssen wieder lernen, unaufgeregt miteinander zu reden und zu diskutieren.

Mastodon in der Unternehmenskommunikation

Schön und gut, mögen Sie denken, aber was ist nun mit Mastodon in der Unternehmenskommunikation? Reiht sich Mastodon in den Reigen der Social-Media-Plattformen ein, die jetzt unbedingt bespielt werden müssen? Nun, zunächst ist da die geringe Reichweite zu berücksichtigen. Bereits Twitter ist mit einer Nutzer.innenzahl von weltweit 350 Millionen für Unternehmen bislang eher wenig relevant im Vergleich mit anderen bestehenden Plattformen. Mastodon bewegt sich im Fahrwasser der öffentlichen Berichterstattung über die Twitter-Übernahme durch Musk auf einen prozentualen Bruchteil dieser Nutzer.innenzahl zu. Selbst wenn es zehn Prozent würden, was immer noch recht wenig wäre, gibt es da noch einen weiteren wichtigen Aspekt: die Zielgruppe. Und die ist auf Mastodon, gelinde gesagt, nicht sonderlich erpicht auf Corporate Content. Mehr noch: Einige Instanzen könnten Firmenprofile (oder gehostete Instanzen von Firmen) problemlos stummschalten, wenn sie wollten. Selbst eine konzertierte Aktion des dezentralen Netzwerks gegen ein Unternehmen, das beispielsweise durch Skandale in die Schlagzeilen gerät, sind theoretisch vorstellbar.

Zuletzt könnten Unternehmen einzig auf einen Image-Gewinn hoffen, wenn sie sich auf Mastodon engagieren und das auch entsprechend kommunizieren. Die ein oder andere Nicht-Regierungsorganisation ist beispielsweise schon auf der Plattform zu finden. Ob sich Unternehmen generell einen Image-Gewinn von einer Präsenz in Mastodon versprechen dürften, bezweifle ich aber. Vor allem dann nicht, wenn sie Mastodon vorwiegend als Cross-Posting-Plattform nutzen würden, also keinen originären Content im Netzwerk erstellen wollten. Und wenn wir ehrlich sind, stünden die Chancen dafür angesichts der geringen Reichweite im Verhältnis zum Aufwand für maßgeschneiderte Inhalte ziemlich hoch. Aktuell ist das kleine digitale Rüsseltier also keine Alternative für die Unternehmenskommunikation, weder für den Mittelstand noch für Konzerne. Bessere Chancen haben dagegen womöglich Start-ups, doch auch das wird sich erst zeigen müssen. Vorausgesetzt, der Zustrom an Nutzer.innen verläuft weiterhin so rasant wie bisher.