Zuerst glaubte ich an Fakenews, dann an den Scherz eines Kollegen. Doch ich merkte schnell: Da bricht ein Shitstorm über das Karrierenetzwerk XING herein. Und das zu einem auf den ersten Blick einigermaßen belanglosen Thema. Damit konnte in den inhaltlich bedeutungsschwangeren Corona-Zeiten nun wirklich niemand rechnen: Es geht um die Frage, ob Menschen mit Du oder Sie angesprochen werden dürfen, sollen, müssen, können, wollen. Aha!

09. Juli 2019

Am Sonntag, den 24. Mai veröffentlichte Dr. Sabrina Zeplin unter dem Titel „Warum wir Sie jetzt duzen“ einen entsprechenden Post an die knapp 18 Millionen (!) Nutzer*innen. Er hat 5.332 Zeichen und endet mit der Grußformel „Eure Sabrina“. Fast 3.000 Kommentare prangen mittlerweile unter dem Statement der XING-Geschäftsführerin. Nicht alle sind freundlich, manche sogar hasserfüllt, viele verständnisvoll und zustimmend. Meist geht es um das Thema Respekt und die Frage, wer wem das Du anbieten darf.

Die emotionalen Reaktionen machen deutlich: Soziale Netzwerke im Business-Umfeld sind besonderen Prinzipien und Mechanismen unterworfen. Ihr soziales Regelwerk ist mit denen von Facebook, Instagram, TikTok und Snapchat schlicht nicht vergleichbar.

Azubis und Praktikanten wollen nicht Geduzt werden

Sogar die FAZ hat dem Thema einen Artikel gewidmet. Dort kommt Uwe Kanning zu Wort. Er ist Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Osnabrück und hat in Studien nachgewiesen, dass das Du beispielsweise im Bewerbungsprozess nicht besonders gut ankommt. Auch bei Azubis und Praktikanten nicht. Nur gut ein Drittel der Befragten möchte in Stellenanzeigen geduzt werden. Aber der Bewerbungsprozess ist etwas anderes als das alltägliche Berufsleben, in dem die Kultur von Unternehmen so unterschiedlich und so vielfältig ist. In der Gepflogenheiten und Gesetzmäßigkeiten feste Wurzeln und ihre eigene Geschichte haben. In der Regeln und Normen meist über Jahrzehnte gewachsen sind und sich manifestieren konnten.

Alles hat (s)eine Zeit!

Zur Einordnung: Ich stamme aus einem bürgerlichen Haushalt und wurde in den späten Sechzigern, Siebzigern und frühen Achtzigern erzogen: danke, bitte, guten Tag, auf Wiedersehen, gerade Hinsetzen (heute hab‘ ich trotzdem Rücken!), aufessen – das komplette Programm. Bei der Frage der Anrede verwies meine Mutter stets auf einen gewissen Herren namens Knigge – meist so eindringlich, als hätte sie ihn persönlich gekannt: Der Ältere bietet dem Jüngeren das Du an, die Dame dem Herren, der Chef dem Mitarbeiter (wenn überhaupt!). Es gab kein Internet, kein Smartphone, kein XING – nur den Spielplatz oder den Schulhof als kommunikative und soziale Begegnungsstätten. Alles war einfach und überschaubar und irgendwie verbindlich geregelt. Ich war froh, meine Eltern Duzen zu dürfen. Als ich dann meine Ausbildung begann und später eine Weile im Bankwesen tätig war, wusste ich, dass die erlernten Regeln irgendwie hilfreich waren. Zumindest schadeten sie meiner Entwicklung nicht.

Die kulturellen Grenzen verschwimmen

Und heute? Auch heute gibt es hierarchisch geführte Unternehmen, in denen das Du nicht zum kulturellen Repertoire gehört. Da wird sich ordentlich Gesiezt, um der Hackordnung und den Lehmschichten zwischen den einzelnen Ebenen gerecht zu werden. Das gepflegte Sie als hierarchischer Schutzschild zwischen Menschen, die im selben Unternehmen, aber nicht in derselben Gehaltsklasse arbeiten. Das es auch anders geht, beweisen nicht nur junge Technologieunternehmen aus dem Silicon Valley, Start-ups aus Schweden oder Traditionsunternehmen aus Stuttgart. Denn durch die Globalisierung hat sich vor allem die Organisationskultur verändert. Sie ist durchlässiger und transparenter geworden, stärker an Zielen und Resultaten und weniger an hierarchischen Gesetzmäßigkeiten oder dem Gehaltsgefüge orientiert. Es geht vielen Beschäftigten auch und gerade um Sinn, Identifikation und Freude – also auch um die Frage, mit wem ich wie und wozu zusammenarbeite. Und da spielen Nähe, Respekt und Vertrauen eine zentrale Rolle!

Die Sache mit der Passung

Eine von mir durchgeführte Blitzumfrage bei einigen Agenturkollegen belegt meine Vermutung: Ob Du oder Sie – es geht im Kern immer um einen respektvollen, wertschätzenden und fairen Umgang mit dem Gegenüber. Jedes Unternehmen muss für sich eine Kultur definieren, die stimmig und authentisch ist und zu den eigenen Werten und Überzeugungen passt.

Das hat XING getan – und es muss nicht jeder/jedem gefallen! „Das ‚Sie‘ steht für eine hierarchische Denk- und Arbeitsweise, mit der wir uns bei XING nicht mehr identifizieren können (…) Das ‚Du‘ schafft Nähe und emotionale Verbundenheit“, schreibt Sabrina in ihrem Post. Merken Sie was? Wir Duzen uns jetzt …